Versöhnung als Schlüssel zum guten Sterben

Zu den größten Hindernissen für einen „guten Tod“ gehören ungeklärte, unabgeschlossene Beziehungen, und einer der wichtigsten, ja geradezu unabdingbaren Faktoren, die ihn erleichtern, ist die Versöhnung. Wenn wir in Frieden sterben wollen, müssen wir anderen vergeben, sie um Verzeihung bitten und auch uns selbst alle Fehler und Missverständnisse verzeihen. Und wenn Sie sich um einen Sterbenden kümmern, können Sie nichts Wertvolleres für ihn tun, als ihm die Möglichkeit zu eröffnen, abgebrochene oder gestörte Beziehungen in Ordnung zu bringen, egal wie spät es sein mag. Wenn Altlasten da sind, Zerwürfnisse in der Familie etwa oder schwierige, ungeklärte Beziehungen, sollte jeder die Gelegenheit bekommen, sie in Ordnung zu bringen, und „Es tut mir leid“, „Ich verzeihe dir“, oder „Ich liebe dich“ zu sagen. So kann nicht nur der Sterbende in Frieden gehen; es ermöglicht auch denen, die zurückbleiben, einen Abschied im Frieden und ohne spätere Schuldgefühle. Wie wichtig das ist, zeigt der folgende Bericht von Les Wilson über ein Erlebnis, das er vor 40 Jahren hatte; damals war er 21.

Mein Vater und ich waren nie gut miteinander ausgekommen, und deshalb zog ich sechs Monate nach meinem Schulabschluss mit 16 von zu Hause aus. Ich schaffte es, Arbeit zu finden und mich im Süden Englands einzurichten, wo ich in der Transportindustrie arbeitete. In den nächsten fünf Jahren fuhr ich kein einziges Mal nach Hause und dachte überhaupt nicht an die Familie, die ich in Yorkshire zurückgelassen hatte.

Aber als ich eines Morgens wie in den vergangenen Jahren um 7 Uhr 30 auf dem Weg zur Arbeit war, bog ich an einer Stelle, an der ich immer nach links zu meiner Arbeit abgebogen war, stattdessen unvermittelt nach rechts ab und fuhr Richtung London und weiter in den Norden. Ich konnte es nicht begründen, außer dass ich den plötzlichen Drang verspürte, mein Zuhause in Yorkshire zu besuchen. Ich hatte einfach plötzlich das Bedürfnis, das zu tun.

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Als ich bei meinen Eltern vor der Haustür stand, kam Mama weinend auf mich zugestürzt, umarmte mich und sagte: ‚Gott sei Dank, dass du hier bist … Wir wussten nicht, wie wir dich erreichen sollten, aber dein Vater stirbt an Krebs, und du bist der Einzige, der ihn noch nicht besucht hat.’

Ich ging nach oben und machte meinen Frieden mit meinem Vater, der sagte, jetzt, da er die gesamte Familie gesehen hätte, wäre er bereit zu gehen, und als mein älterer Bruder ihn am nächsten Morgen besuchen wollte, lag er tot in seinem Bett. Ich konnte dieses Phänomen nicht erklären, und seitdem beschäftigt es mich.

Viele Pflegende, die wir für unsere Studie befragten, meinten, manch- mal würde der Sterbeprozess selbst Umstände herbeiführen, welche die Beilegung persönlicher Konflikte erleichtern. Sie sagen, in den zwei oder drei Tagen vor dem Tod würde in dem Zimmer eine extrem friedliche, liebevolle Stimmung entstehen, und in diesem Rahmen fänden Familien es leichter, Konflikte zu beenden und sich zu versöhnen. Nicht immer ist das möglich, aber einen Versuch ist es allemal wert. Befragte Pflegeheim- Mitarbeiter*innen, die eine Versöhnung zwischen zerstrittenen Familienmitgliedern herbeiführen konnten, hatten das Gefühl, das nun etwas abgeschlossen war, dass der Bewohner seine Ruhe gefunden hatte. Der folgende Bericht veranschaulicht, wie sehr eine solche Versöhnung den Trauerprozess der Hinterbliebenen unterstützen kann.

Peter Beresford, seine Frau Suzy und ihre Kinder hatten immer eine schwierige Beziehung zu seiner Mutter gehabt. Sie hatte sich stets geweigert, Differenzen oder Streitigkeiten durchzusprechen, und deshalb wurden die Probleme nie geklärt. Wie er sagt, sind die gestörtesten und kompliziertesten Beziehungen nach dem Tod am schwierigsten zu heilen. Er und seine Familie erhielten die Chance zur Versöhnung durch die Freundlichkeit einer Hospiz-Schwester. Sie war in der Nacht, in der die Mutter starb, bei ihr gewesen und beschrieb ihm in einem Brief die Unterhaltung, die sie in dieser Nacht mit ihr gehabt hatte. Die Mutter hatte unbedingt über die Vergangenheit und Dinge sprechen wollen, von denen sie im Nachhinein wünschte, sie hätte sie anders gemacht. Er beschrieb die Wirkung, die das auf ihn hatte, in einem Artikel im Guardian.

Der Brief der Krankenschwester war deshalb so wunderbar, weil es wirklich eine Stimme aus dem Grab war, eine Art Sterbebett-Beichte, bei der man weiß, dass der Bote keinen Hintergedanken hat, kein anderes Interesse, als unvoreingenommen und als Außenstehender zu helfen. Genauso wie wir wussten, dass wir nicht beurteilt wurden, wussten wir auch, dass meine Mutter nicht beurteilt wurde, und damit passierte jetzt etwas, das kaum je passiert war. Wir hörten eine authentische, herzliche Äußerung von meiner Mutter … Natürlich … kann man manche Kommentare von ihr immer noch als eigennützig interpretieren. Aber in dem, was sie sagte, lagen Wertschätzung, Anerkennung, Entschuldigung, und vor allem äußerte sie sich herzlich über Suzy … Im Lauf der Jahre konnte ich ein ehrliches Bild von meiner Mutter entwerfen und diese Person betrauern. Und das verdanke ich in hohem Maße der einfachen, gewissenhaften und großherzigen Tat der Krankenschwester.

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